Sachbücher können zwar Wissen vermitteln, aber auch staubtrocken und schwer lesbar sein. Es sei denn, man hat einen Autor, der nicht nur über ein reiches Fachwissen verfügt, sondern das auch noch unterhaltsam vermitteln kann. So unterhaltsam, dass man sich dazu zwingen muss, mit dem Lesen aufzuhören, weil es auch eine Welt jenseits des Buches gibt, die um Aufmerksamkeit buhlt. „Der taumelnde Kontinent“ ist mehr als ein Überblick über die Jahre 1900 bis 1914. Es ist ein Einblick in eine Zeit, die mit ihrer rasanten Entwicklung ihren umwälzenden Veränderungen gleichzeitig so fern und doch so nah ist.
Anhand von Beispielen zeigt Philipp Blom, dass wichtige geistige, emotionale und wissenschaftliche Veränderungen genau in diesem Zeitraum stattfanden. Da wäre die Frauenfrage, die die britischen Suffragetten gleichsam ins Licht der Öffentlichkeit zerrten und diese zwang, sich mit Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Hälfte der Gesellschaft auseinanderzusetzen, die von der anderen, männlichen Hälfte ignoriert oder mit einem Achselzucken abgetan wurde. Dass die größte Demonstration der Suffragetten in Londons Hyde Park mit einer halben Million Teilnehmern wahrgenommen wurde, war unter anderem auch den Zeitungen zu verdanken, die, immer hungrig nach Informationen, ihre Auflagen steigerten und ihre Leser möglichst schnell mit Informationen versorgten.
„Salutiere allem, was sich bewegt, und male alles andere an.“
Informationen, zu denen auch kulturelle Entwicklungen in der Malerei oder dem neuen Kino, das zum ersten Mal Stars wie Sarah Bernhardt hervorbrachte, die bewundert wurden und von denen das Publikum möglichst viel wissen wollte – der Beginn der Fankultur. Aber auch außerhalb der Unterhaltung ließ das Medium Film die Welt etwas kleiner werden, wenn ganz alltägliche Szenen gezeigt wurden oder das Publikum militärische Paraden sehen konnte. Gerade in Deutschland, wo die Marine mit ungeheuerer Energie und entsprechenden Geldsummen aufgerüstet wurde und sich Männer scheinbar nur in Uniformen wohlfühlten, waren die sogenannten preußischen Tugenden allgegenwärtig. Sie versinnbildlichten auch die deutsche Obrigkeitshörigkeit und ein blindes Vertrauen in den Staat, eine Einstellung, die den Briten zutiefst verdächtig erschien und die statt auf bürokratische Prozeduren Wert legten auf geniale Exzentriker und Amateure. Während sich die Deutschen mit Karl May in die Weiten des Wilden Westens oder in die Hitze des Orients begaben (und sich vom Drill erholten), ließ der Schotte Arthur Conan Doyle seinen Meisterdetektiv Sherlock Holmes Kriminalfälle lösen und schenkte der Welt die wohl berühmteste Gestalt dieses Genres.
Man könnte noch viel mehr Interessantes, Unbekanntes und Vergessenes anführen, dass Philipp Blom hier präsentiert. Denn natürlich vergisst er weder die Pariser Weltausstellung von 1900 im Besonderen noch die Entwicklungen in Frankreich bis 1914 im Allgemeinen. Doch das würde die Vorfreude auf das lesenswerte mit zahlreichen Fußnoten und Literaturhinweisen versehene Buch mindern.
Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent – Europa 1900-1914, dtv, 14,90 Euro
(Das Buch wurde mir freundlicherweise von dtv als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.)
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