Foto: Petra Breunig

Thomas Reverdy: Ein englischer Winter

Mit Zitaten auf Schutzumschlägen ist es so eine Sache. Die Bloggerin seufzt, weil große Zeitungsnamen als Quelle genannt werden (meist wird nicht mal der Name des jeweiligen Autors erwähnt), die Leserin hofft, dass die Erwartungen, die auf diese Weise hochgeschraubt werden, zumindest nicht allzu sehr enttäuscht werden.
“Ein englischer Winter” enttäuscht nicht. Denn mit der Fahrradfahrt der Hauptfigur Candice durch London beginnt die Geschichte unmittelbar. Eine Geschichte, die, angesiedelt im Winter 1978/79, nicht nur das Ende der 70er Jahre markiert. Der später als “Winter of Discontent“, als “Winter des Missvergnügens” bezeichnete Zeitraum ist einer der wichtigsten in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Zeit der Beatles und Hippies endet, die Punks übernehmen. Nicht nur bei Jugendlichen macht sich das  “No Future”-Gefühl breit. Kein Wunder, wenn man die flüchtenden Ratten in der Müllbergen auf den städtischen Straßen sieht, an denen Candice vorbeiradelt.

“Bevor sie das Wort ergreift, zieht sie den Lippenstift nach.”

Politisch steht die Labour-Regierung vor dem Aus, die Streiks werden ausgeweitet und Margaret Thatcher muss im Grunde nicht viel tun, um die erste Premierministerin des Vereinigten Königreichs zu werden.
Vor diesem Hintergrund radelt Candice nicht nur als Fahrradkurierin durch das Labyrinth der Londoner Straßen. Sie probt auch für die Titelrolle von William Shakespeares Königsdrama “Richard III.“,  zitiert die berühmten Eingangszeilen bei der Slalomfahrt abseits der Hauptverkehrsstraßen und behauptet sich als Frau in einer von Männern dominierten Arbeitsumgebung, während sich Margaret Thatcher im Wahlkampf als ganz normale Frau gibt.

“Wenn Sie etwas erklärt haben wollen, fragen Sie einen Mann; aber wenn Sie etwas erledigt haben wollen, fragen Sie eine Frau!”

Der französische Autor Thomas Reverdy legt mit seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Roman “Ein englischer Winter” ein Sittengemälde an der Wende zu den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts vor. Das Vereinigte Königreich, der “kranke Mann Europas“, steht am Abgrund. Die Labour-Regierung, zunehmend unfähig mit Streiks, Arbeitslosigkeit und steigenden Mieten fertig zu werden, erkennt nicht, welche Auswirkungen der Generalstreik für das Land hat. Berühmt geworden ist die Frage “Crises, what crises?” (“Krise? Welche Krise?”) mit der die Boulevard-Zeitung “The Sun” den Labour-Premierminister James Callaghan zitiert, der damit auch offenbart, wie weit er sich von den ganz normalen Bürgern entfernt hat.

“Nun ward der Winter unseres Missvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks”

Und natürlich zitiert Thomas Reverdy Shakespeares “Richard III”. – deutlicher als im deutschen Titel ist der Bezug im französischen Original (“L’hiver de mécontentement”) – immer wieder. Richard verkörpert bei Shakespeare das böse bucklige Monster, das von Anfang an die legitimen Thronanwärter ausschalten will, er ist der Außenseiter, den niemand dabei haben will und das, obwohl er im Krieg gekämpft hat und seinem Bruder Edward immer treu ergeben war.
Reverdy behandelt nicht nur die Frage, was mit Richard passiert, wenn die Rolle von einer Frau gespielt wird. Er stellt die von Shakespeare ganz im Sinne der Tudor-Propaganda gezeichnete Figur Margaret Thatcher gegenüber, die mit ebenso kaltem Instinkt nach der Macht als Premierministerin greift. Nicht ganz von ungefähr nimmt sie an dem Theater, an dem Candice mit ihrer Schauspieltruppe übt, Sprechunterricht, um sich ihren Akzent abzutrainieren.

“Ein englischer Winter” ist ein intensives Buch, das von der ersten Seite an fasziniert. Das liegt natürlich am schnörkellosen, aber umso beeindruckenderen Stil, der in der gekonnten Übersetzung von Brigitte Große (die Shakespeare-Zitate sind aus der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel) nichts von seiner Intensität verliert. Es ist aber auch die nicht allzu ferne Vergangenheit, deren Probleme auf einmal ganz nah wirken. Nicht zuletzt vor dem gerade vollzogenen Brexit scheinen die Ereignisse in  London wie eine Erklärung für die Eigenheiten der Briten und ihres Selbstverständnisses zu sein. Ein Selbstverständnis, das den britischen Sonderweg bis heute als folgerichtig erscheinen lässt. Wer sich gut unterhalten lassen und gleichzeitig etwas Geschichtsunterricht nehmen will, wird begeistert sein.
Eine Playlist am Ende des  Buches fasst die Lieder zusammen, deren Titel jeweils über den einzelnen Kapitel stehen und die den Soundtrack zum Buch ergeben.

Thomas Reverdy: Ein englischer Winter. Berlin-Verlag, 22 Euro.
Das Buch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt.

Mehr über Richard III. habe ich in verschiedenen (auch englischen) Einträgen auf DieBedra.de geschrieben.

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